Der unerträgliche Anachronismus.
Über das Elend der Übersetzerhonorierung
(1990)


Wer will eigentlich, daß Literatur übersetzt wird? Absurde Frage, möchte man meinen – jeder natürlich! Aber wer trägt die Kosten der Übersetzung? Antwort: der Übersetzer; er erhält vom Verlag eine Beihilfe von etwa einem Drittel der Kosten. Groteske Übertreibung? Mitnichten, grotesk sind die Zustände.

Eine einfache Rechnung: Jemand, der zehn Bücher seriös übersetzt hat – was eine Lehrzeit von vier oder fünf Jahren bedeutet –, der im Deutschen wirklich zu Hause ist, der über ein breites und fundiertes Wissen verfügt – ohne diese Voraussetzungen hätte er die zehn Aufträge nicht erhalten –, dieser qualifizierte Übersetzer wäre nicht unbescheiden zu nennen, würde er den Stundensatz eines freiberuflichen Ingenieurs ansetzen, der heute bei 45 DM aufwärts liegt. Die von der Praxis immer wieder bestätigte Faustregel besagt aber, daß bei einem nicht zu schweren Text und in konzentriertem Zehnstundentag fünf fertig redigierte Normseiten die Höchstleistung sind. Eine Seite erfordert also mindestens zwei Stunden Arbeit, oft sehr viel mehr. Sie würde beim Ingenieur neunzig Mark aufwärts kosten. Für Wirtschaftsübersetzungen ist ein solches Honorar auch durchaus üblich, doch literarische Verlage bezahlen bestenfalls dreißig Mark, fast immer weniger.

Wie gibt's das, wird der staunende Leser übersetzter Literatur fragen. Die Antwort ist sehr einfach: Es war immer so. Ein alter Zopf, ein Anachronismus. Der Übersetzer ist nie gefragt worden, was seine Arbeit denn koste. Man hat immer so getan, als betriebe er ein Hobby, als hätte er nie vom Verleger einen Auftrag erhalten.

Lange Zeit war es tatsächlich so, daß der Übersetzer sozusagen selbst schuld hatte, wenn er fremdsprachige Literatur übersetzte. Hatte er doch leuchtende Vorbilder: Hieronymus und Luther hätten als Auftraggeber für ihre Bibelübersetzungen nur Gott den Allerhöchsten gelten lassen, Johann Heinrich Voß sah in der Übertragung der Ilias und der Odyssee seinen Lebenszweck schlechthin, und Christoph Martin Wieland machte zwischen dem Verfassen eigener und dem Übersetzen fremder Werke keinen so großen Unterschied; beides, Eigenes wie Übersetztes, war gleichermaßen literarisches Schaffen aus ureigenem Antrieb. Und wie so mancher übersetzende Literat vor ihm und nach ihm hatte er eben Glück, wenn er einen Verleger finden konnte, ansonsten war es sein Privatvergnügen gewesen.

Bis in unser Jahrhundert hinein war dies die Regel. In dem Maße, als sich das Interesse an der Weltliteratur ausweitete (und die Verleger entdeckten, daß man mit fremdsprachlicher Literatur die Programme auffüllen konnte), ging allmählich die Initiative auf den Verleger über: Er begnügte sich nicht mehr mit den Übersetzungen, die er angeboten bekam, er erteilte selbst Aufträge. Gegen Bezahlung? Nun ja, ein Autorenhonorar war eigentlich nicht fällig. Im übrigen galt es als unfein, über Geld zu reden.

Der wahre Übersetzungsboom, der nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte, brachte auch einen ungeheuren Bedarf an Übersetzern. Weil es zu wenig übersetzende Literaten und Schriftsteller gab und man es auch sonst nicht so genau nahm, beauftragte man so ungefähr den nächstbesten Bekannten, sofern er nur der gefragten Fremdsprache einigermaßen mächtig war – nach der heute noch bis in Verlage hinein verbreiteten Auffassung, daß, wer eine Fremdsprache verstehe, auch übersetzen könne. (Das Ergebnis davon sind die unzähligen; vor allem in den fünfziger und sechziger Jahren erschienenen Übersetzungen, die vom sprachlichen Glanz des Originals nicht einen Schimmer übrig lassen, deren „Translatorisch“ oftmals so peinlich und unlesbar ist, daß die seriös genannten Verlage sie heute nie und nimmer wiederauflegen können, sondern neu übersetzen lassen müssen. Die Beispiele sind Legion.)

Der mit einer Übersetzung beauftragte Irgendwer, der sein Werk in der Freizeit vollbrachte, hatte ein ehrenvolles Amt in den Vorhöfen der Literatur, er arbeitete deshalb auch gerne ehrenamtlich. Immerhin bekam er vom Verlag eine Anerkennung, manchmal in Form eines Gratis-Exemplars seiner gedruckten Übersetzung, immer öfter aber auch in Form eines Geldbetrags. Man wandte sogar das Wort „Honorar“ darauf an. Hatte also der Übersetzer, wie der Arzt und der Anwalt, nun „die Ehre, für erbrachte Leistungen so und so viel zu berechnen“? Gott bewahre, nicht diese Ehre war gemeint! Der Übersetzer hatte zu nehmen, was der Verlag für die Übersetzung vorgesehen hatte, und das war ganz einfach möglichst wenig.

Vereinzelt schon vor dem Zweiten Weltkrieg, hauptsächlich aber danach, passierte dann etwas, wodurch dieses System eigentlich hätte hinfällig werden müssen: Das Übersetzen wurde zur eigenen Kunst mit Regeln. Einige Frauen und Männer wollten das Handwerk um seiner selbst willen ausüben. Sie wollten nicht mehr nur dieses oder jenes Werk, diesen oder jenen Autor übertragen, was sie fesselte, war das Übersetzen selbst, diese faszinierende Wanderung zwischen zwei Sprachwelten.

Einer der Pioniere dieser neuen Kunst, Elmar Tophoven, versuchte denn auch in unermüdlicher Arbeit, ihre Regeln in der Praxis zu demonstrieren.* (Wie Werkstattgespräche immer wieder erweisen, werden sie in erstaunlicher Einmütigkeit angewandt, obwohl sie sich so wenig ex cathedra lehren lassen wie die Regeln anderer Künste.) Und heute gibt es einige hundert professionelle Übersetzer, so wie es professionelle Musiker und Schauspieler gibt; sie machen genauso qualifizierte Arbeit wie der Setzer, der Drucker, die Verlegerin. Über Auftragsmangel kann sich keiner von ihnen beklagen, die Verlage reißen sich um sie.

Eine Wende? ja und nein. Beim Geld nur nein. Hier nämlich stellt man sich in den Verlagen ganz und gar unwissend und tut so, als wäre das Übersetzen immer noch ein Hobby und als hätten die professionellen Übersetzer selbst schuld, wenn sie partout übersetzen wollten. Wie zu Zeiten des ehrenvollen Amtes bestimmt nach wie vor der Verlag, was die Übersetzung kostet (immerhin ein Unikum in unserer Marktwirtschaft: Der Preis der Ware wird vom Kunden festgesetzt, der Anbieter darf den diktierten Betrag in seine Rechnung hineinschreiben). So kommt es zu unserer Groteske. Der Verlag diktiert ein Honorar von 30 DM für eine Manuskriptseite, welche nach den Regeln der betriebswirtschaftlichen Kalkulation 90 DM kosten würde. Die Differenz von 60 DM finanziert der Übersetzer. Wenn dieser (oder sein Ehepartner) das Geld nicht hat, entsagt er eben den Annehmlichkeiten unserer Wohlstandsgesellschaft. Das sieht dann so aus, daß er etwa auf dem Niveau des Sozialhilfesatzes lebt, also ständig zusehen darf, wie er selbst bei bescheidensten Ansprüchen über die Runden kommt.

Sind die Verleger also lauter Unmenschen? Nun, sie haben eben das Bewußtsein, Höherem zu dienen. Und da wird wohl jenes schon vom Begründer der französischen Aufklärung, Pierre Bayle, diskutierte Phänomen hineinspielen, wonach das Wissen, Höherem zu dienen, den Gang über Leichen unbeschwerter macht. Jedenfalls berufen sich die Verleger mit einer Skrupellosigkeit auf die Vertragsfreiheit – rechtlich sind die Übersetzer „selbständige Unternehmer“ –, wie es sonst nur Haie in der wirtschaftlichen Halbwelt tun. Mit derselben Kaltblütigkeit nützen sie aus, daß die Übersetzer sich nicht wehren können. Diese sind nämlich nicht nur ein viel zu kleines Häuflein (ohne Streikkasse), sie sind vor allem ein eher vergeistigtes als lebenspraktisches Völkchen: fasziniert von ihrem Handwerk und ihn Autoren, von geradezu legendärer Bescheidenheit, so wenig von sich selbst eingenommen, daß sie lieber gute Bücher übersetzen als mittelmäßige schreiben. Und, da wird der Zynismus ganz fein, sehr viele von ihnen sind Frauen.

Die Frage ist natürlich, wie lange man, Übersetzerin oder Übersetzer, eine solche Behandlung aushält. Die Pioniere der Kunst hatten fast alle ihren Brotberuf (nur ganz wenige großartige Frauen haben jahrzehntelang ausschließlich vom Bücherübersetzen gelebt). Sie hatten dadurch ihr Auskommen und konnten leichter über die entwürdigenden Umstände hinwegsehen, unter denen sie arbeiten mußten. Doch immer mehr Übersetzerinnen und Übersetzer der nachfolgenden Generation wollen nun ihr Handwerk ausschließlich und hauptberuflich ausüben. Es ist nicht nur die Kunst des Übersetzens selbst, die sie dazu drängt (je weiter man in ihr vorankommt, desto mehr verlangt sie Ausschließlichkeit). Sie wollen vor allem nicht mehr einsehen, warum sie als einzige Bürger der Republik nicht auch das Recht haben sollten, von ihrer Arbeit zu leben. Denn die schändliche Bezahlung hat auch diese psychologische Seite: Es ist ungeheuer demütigend, gegen Auftrag (nicht aus Schöpferlaune!) hochqualifizierte Spezialistenarbeit zu leisten und davon nicht einmal als Single richtig leben, geschweige denn eine Familie ernähren zu können. Schließlich hat man kein Armutsgelübde abgelegt. Es wird zur Frage der Selbstachtung, ob man – wie weiland die Dienstboten, Mägde, Knechte – es sich faktisch verbieten lassen will, eine Familie zu gründen, ein Haus zu bauen, nach Spanien zu fliegen, für die alten Tage vorzusorgen.

Entschiedener noch ist die Seelenlage bei der Generation der Nachwuchsübersetzer. Diese junge Leute haben ein vergleichsweise gesundes Selbstbewußtsein und sind meist auch ausgebildete Dolmetscher oder Fachübersetzer; sie werden sich nicht jahrzehntelang demütigen lassen. Die Zeiten, in denen es als unfein galt, für geistige Arbeit angemessene Bezahlung zu fordern, kennen sie nur noch aus Erzählungen.. Es ist also absehbar, daß die literarischen Übersetzerinnen und Übersetzer aufhören werden, die „Schindmähren der Kultur“ (O. Bayer) zu spielen. Was dann? Es gibt drei Möglichkeiten:

1. Die Verleger „pfeifen auf Qualität“ (O. Bayer). Rein finanziell gesehen, wäre dies für die literarischen Übersetzer nicht uninteressant: Ist Qualität nicht gefragt, übersetzt man eben so schnell, wie man tippen kann, und verdoppelt, verdreifacht, vervierfacht den Ausstoß. Doch diese Möglichkeit ist eher theoretisch: Übersetzer tun sich schwer mit dem Pfeifen auf Qualität.

2. Jemand anders übernimmt den bisher vom Übersetzer gespielten Part der Bescheidenheit, und verzichtet zugunsten der Weltliteratur auf zwei Drittel seines Gehalts. Es sind ja ihrer so viele, deren Lohnkosten ganz selbstverständlich in voller Höhe in die Kalkulation des Produkts Buch eingehen. Es könnten doch, nur probehalber für ein paar Jahre ... (die Setzer als erste zu fragen, wäre vielleicht nicht ratsam, sie können streiken, und wie!).

3. Die Bücher werden teurer. Um wieviel denn? Nehmen wir einmal an, die 330 Manuskriptseiten einer unschwierigen Romanübersetzung würden korrekt honoriert: zwei Stunden Arbeit pro Seite, also 90 DM. Diese Übersetzung würde dann nicht, wie zur Zeit noch, knapp 10 000 DM, sondern etwa 30 000 DM kosten. Die 20000 DM Mehrkosten auf 10 000 Exemplare verteilt: Das Buch würde zwei Mark teurer. Verteilte man die Übersetzungskosten auf alle Bücher des Verlagsproggmms – ein Viertel davon sind Ubersetzungen – so würden die Bücher linear um 50 Pfennig teurer. Daß der Buchkäufer das nicht bezahlen würde, behauptet niemand.

Doch da erhebt sich sofort ein Geschrei: der Mitnahmeeffekt! Das Übersetzungshonorar müsse schon im Verlag mit den Gemeinkosten und anderen Faktoren multipliziert werden, außerdem schlage der Buchhandel nochmals 100 Prozent auf den Verlagsabgabepreis. Wenn also der Übersetzer pro Buch zwei Mark mehr erhalten solle, müsse der Endverbraucher, der Leser, etwa acht Mark mehr bezahlen. Das wollen natürlich Verleger und Buchhändler dem Leser nicht zumuten. Sollen sie auch nicht. Sie sollen ihm nicht acht, sondern zwei Mark zumuten. Kalkulationsschlüssel lassen sich schließlich ändern, notfalls ganz umgehen: Wir alle haben in der Stromrechnung den Kohlepfennig stehen, der sämtliche Multiplikationsfaktoren unbeschadet übersteht: warum nicht analog einen Übersetzungspfennig? Eine halbe Mark für jedes Buch, und eine Werbeaktion der literarischen Verlage, mit der sie um Verständnis für diese wahrhaftig geringfügige Preiserhöhung bitten. Der Leser wird dieses Verständnis um so leichter aufbringen, als ihm von den Verlagen gleichzeitig versichert wird, daß er künftig nur noch qualifizierte Übersetzungen in ihrem Programm finden werde.

Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Wenn nur immer behauptet wird, es gebe keinen Weg zu einer weniger schändlichen Honorierung der Übersetzer, so ist am Willen zu zweifeln. Am Willen zu jenem Mindestmaß von Anstand, das heute zur Philosophie jedes „normalen“ Unternehmers gehört.

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* In Akzente 6/1989, Seite 535 ff., ist ein kleines Beispiel dafür zu sehen. Elmar Tophoven hat alle seine Übersetzungen durchgängig so dokumentiert.
 

© Josef Winiger 1990